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Jan Wawrzyniak

Werk von Jan Wawrzyniak
Kohle und Leinwand sind die Grundelemente, mit denen der in Berlin lebende Künstler ungegenständliche Bildgefüge aus weißen, grauen und schwarzen Linien und Flächen entwirft. Sie regen den Betrachter unvermeidbar und immer wieder neu an, in einem Wechselspiel aus Rationalität und Intuition räumliche Gefüge zu entwickeln.
Er untersucht in seinen Werken intensiv die Wirkung elementarer gestalterischer Mittel, reduziert auf Linie und Form, auf schwarze und weiße Flächen. Seine Bilder sind nicht an ein Motiv gebunden, sondern erzeugen allein durch das Zusammenspiel der Elemente perspektivisches Sehen, das aber stets changiert zwischen einer räumlichen und flächigen Wahrnehmung.

Dabei führen uns Wawrzyniaks Werke erfahrbar vor Augen, wie sehr unsere Wahrnehmung auf Stabilität und Klarheit angelegt ist. Letztendlich ist es genau das, was uns an seinen Werken fesselt und nicht mehr los lässt: Die Sehnsucht nach Stabilität und Eindeutigkeit, die hier verweigert wird. So betrachtet, eröffnen die Werke nicht nur den Weg für eine Beschäftigung mit den eigenen Wahrnehmungsmechanismen in Anbetracht von Kunstwerken, sondern auch für eine Reflektion der Erwartungen, Erfahrungen und Irritationen auf allen Ebenen des Lebens und der Gesellschaft.
 
Ohne Titel (13020), 2013
Kohle auf grundiertem Baumwollgewebe
3tlg., je 250 x 167 cm, gesamt ca. 250 x 487 cm
Die monumentalen Werke aus vieleckigen, asymmetrischen Leinwänden lassen ein Gefüge entstehen, innerhalb dessen sich der Rezipient seiner Raumorientierung nicht mehr sicher sein kann. Vielfältige Raumvorstellungen entwickeln sich dabei sowohl aus den Gefügen der Flächen jeder einzelnen Leinwand, als auch zwischen den einzelnen Bildelementen einer Arbeit und über sie hinweg. Es beginnt ein unaufhörlicher Anschauungsprozess, in dem Flächen nach vorn kippen, Räume sich auftun und wieder schließen.
Ohne Titel (14004), 2014
Kohle auf grundiertem Baumwollgewebe
2tlg., je 167 x 55 cm, ges. ca. 185 x 110 cm
Neben den asymmetrischen Formen der Leinwände entwickeln die Flächen selbst durch die Hell-Dunkel Kontraste eine starke Eigendynamik. So kommt es zu optischen Eindrücken, die die faktische Horizontalität oder Vertikalität von Kanten und Linien verschleiern.
Lynched Line (13007), 2013
Kohle auf grundiertem Baumwollgewebe
ca. 180 x 215 x 24 cm
Lost Drawings
Bei den Lost Drawings schneidet Wawrzyniak gezielt Leinwandfragmente aus zuvor verworfenen Bildern, welche dann direkt auf die Wand montiert werden und mitunter in den Raum hineinragen. Hier geht der Künstler am weitesten mit der Reduktion der Gestaltungselement, indem seine Bilder keine Flächen mehr zeigen, sondern lediglich eine schwarze, filigrane Linie auf weißer, grundierter Leinwand. Die Räume, die von den anderen Werken kraft- und spannungsvoll hervorgerufen werden, erscheinen hier aufgelöst und zerbrechlich. Und trotzdem existieren sie in der Imagination des Betrachters. Das macht den Reiz dieser Bilder aus, denn zugleich könnte der Hinweis auf die Undurchdringbarkeit und Flächigkeit der Leinwand, die hier fast unbehandelt in ihrer Materialität und Struktur in Erscheinung tritt, größer nicht sein.
Broken Drawing (14008), 2014
Kohle, Papier, Holzrahmen, Wand
4tlg., gesamt 63 x 355 cm
Broken Drawings
Bei den Broken Drawings geht es um den räumlichen Eindruck, der sich beim Beschauen der einzelnen Fragmente des Werkes – Linien, Rahmen, Papier und Wand – einstellt. Immer wieder wird bewusst, dass die eigentlich leeren Flächen dabei eine maßgebliche Rolle spielen und Fragen nach Figur und Grund sowie nach einem Davor und Dahinter aufwerfen.
Wawrzyniak nutzt verglaste Holzrahmen und Papier um in den Werken die Zeichnung über die verschiedenen Bildebenen hinweg bis auf die Wand laufen zu lassen. Damit entzieht sich die Ganzheit des Werkes, die zunächst gegeben scheint, dem Blick: Welches Element auch ins Auge gefasst wird, zwangsläufig geraten Elemente der anderen Bildebenen aus dem Fokus. Darüber hinaus stellen die Broken Drawings die Abgeschlossenheit und Einheit von Kunstwerken generell in Frage, die sich seit jeher insbesondere in der Rahmung manifestiert. Wawrzyniak versteht diesen hier nicht mehr als Randmarkierung, die das Werk nach außen abgrenzt, sondern als Bildelement, das nun innerhalb des Werkes seinen Platz hat. Die Broken Drawings verweigern sich somit nicht nur in der Tiefe einer räumlichen Verortung, sondern auch auf der Fläche einer klaren Umgrenzung.
Still und Installationsansicht
Drawn by the other, 2014
HD-Video
Drawn by the other (2014)
Die Videoarbeit Drawn by the other dokumentiert zum einen den Entstehungsprozess einer 18 Meter langen Linie („Alexanderlinie“) auf Shoji-Papier, die für die Ausstellung „Broken and Lost Drawing“ im Museum Wiesbaden entstanden ist und sich seitdem in dessen Sammlung befindet; zum anderen reflektiert der Künstler in dieser Arbeit fundamentale Fragen, die sich im Spannungsfeld von künstlerischer Produktion und ihrer Einbettung in soziale Verhältnisse bis hin zu elementaren Fragen an den Prozess des Zeichnens selbst bewegen.
Im Mittelpunkt der Projektion verharrt die Künstlerhand, die ein Kohlestück hält. „Die Linie entsteht aus dem Punkt, den die Hand gewählt hat. Die Hand punktiert das Papier und während das Papier wandert, bleibt die Hand passiv. Die Linie wird nicht gezogen, sie wird erwartet.“ Diese Aussage des Künstlers sowie den Titel der Videoarbeit Drawn by the other kann man als Hinweise auf die komplexen Zusammenhänge lesen, die - bei aller Einfachheit der Form - in dieser Arbeit mitschwingen.
Ohne Titel, 2006
Kohle auf grundiertem Baumwollgewebe
80 x 80 cm
Frühe Werke
"Die Lesart besteht darin, Lesarten nur anklingen zu lassen. So wie die Perspektivität nie eindeutig wird, so oszilieren ein gegenständlich „wiedererkennendes Sehen“ und ein freies, rein formales, „sehendes Sehen“, das den Konstellationen der Flächen und Linien auf der Leinwand nachspürt. Das zweite wichtige Charakteristikum besteht darin, dass sie durch ihre Farblosigkeit, ihre stummen matten Oberflächen und ihr labiles Austarieren des Gleichgewichts eine ganz bestimmte, leicht beklemmende Atmosphäre erzeugen; von ihnen geht die melancholische Aura einer fragilen und letztlich unzugänglichen Welt aus."
Katalog Kunsthalle Erfurt, 2007, S. 9